Samstag, 4. Juni 2011

Die Stimme

Immer wieder fuhr Holger Klausen mit dem Mauszeiger über die Zahlenreihen, blickte auf die Unterlagen, die er vor sich auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, und dann wieder auf das gelbstichige Display seines alten Laptops. Länger als eine Stunde hatte er schon Zahlen in eine Excel-Tabelle getippt, jetzt verglich er seine Eingaben noch einmal sorgsam Stück für Stück mit den Beträgen in seinen Papieren und fand schließlich einen Fehler: "207,46 €" hatte er in die Tabelle geschrieben, "207,64 €" stand in seinen Unterlagen. Er änderte die Zahl in der Tabelle und damit änderte sich auch die Summe in deren Fußbereich.

"Sinnlos!" Klausen stand ruckartig auf und klappte den Laptopdeckel zu. Ein Lämpchen an der Vorderseite wechselte die Farbe von grün zu orange, das Gerät war jetzt im Standby-Modus. Klausen zog den Einschub aus seiner Kaffepadmaschine, nahm ein warmes, durchfeuchtetes Kaffepad heraus und warf es in die Spüle. Aus der Blechdose neben der Kaffeemaschine fummelte er ein neues hervor, legte es in den Einschub und schob diesen zurück. Dann drückte er den Knopf, um einen neuen Kaffee aufzubrühen.

"Scheiße!", fluchte Klausen und nahm eilig seine Kaffeetasse vom Tisch, um sie unter den Auslauf der Maschine zu stellen, wo unter lautem Brummen immer mehr von der belebenden Flüssigkeit ohne Halt nach unten floss. Es kam noch genug nach, um die Tasse zur Hälfte zu füllen. Klausen nahm ein Geschirrtuch, wischte den größten Teil des vergossenen Kaffees damit auf und drückte dann das durchfeuchtete Geschirrtuch über der Spüle aus.

Die halb gefüllte Tasse in der Hand, ging Klausen ins Wohnzimmer. Er öffnete den großen Vitrinenschrank: Eine alte analoge Spiegelreflexkamera, zwei einzelne Objektive, ein kleines Kurzwellenradio, ein Kopfhörer, eine dicke alte Familienbibel, eine mechanische Armbanduhr, ein Beutel mit Teelichtern - Klausen nahm alles bis auf die Teelichter aus dem Schrank und legte es auf den Wohnzimmertisch. Dann zeigte er auf einen Gegenstand nach dem anderen, und raunte dabei halblaut: "Fünfzig, achtzig, hundertzwanzig, hundertvierzig, hundertfünzig, zweihundert, zweihundertfünfzig. Zwei Wochen vielleicht. Immerhin."

Er zog sein Handy aus der Hosentasche, aus der er gleich anschließend eine Packung Taschentücher hervorkramte, rupfte ein Taschentuch heraus, hauchte es an und wischte damit über die Linse der Handykamera. Darauf nahm er die alte Spiegelreflexkamera, platzierte sie in der Mitte der Tischplatte, und fotografierte sie mit seinem Handy. Das wiederholte er mit den Objektiven, dem Kurzwellenradio, dem Kopfhörer und der alten Bibel. Dann nippte er an seiner Kaffeetasse, deren Inhalt inzwischen komplett ausgekühlt war. In einem Zug stürzte er den Rest Kaffee hinunter und ging, die Tasse in der linken, das Handy in der rechten Hand, zurück in die Küche.

Er klappte seinen Laptop wieder auf, öffnete dann nacheinander drei Küchenschubladen, bis er in der dritten schließlich das Datenkabel fand, mit dessen Hilfe er das Handy mit dem Laptop verbinden konnte. Ein Ordnerfenster mit den Bildern, die er im Wohnzimmer aufgenommen hatte, erschien auf dem Display. Klausen startete den Internet Explorer, tippte die Adresse des Internet-Auktionshauses in die Adresszeile und beschäftigte sich in der nächsten Stunde damit, für jeden der Gegenstände ein Angebot zu erstellen. Er war fast fertig, als er hinter sich eine tiefe Männerstimme hörte:

"Das Wort Gottes, Startpreis ein Euro, so so..."

Klausen sprang auf und fuhr herum, aber hinter ihm war niemand zu sehen. Er rieb sich die Augen und schüttelte kräftig den Kopf. Dann stand er auf und ging zur Toilette. Wieder zurück, sah er sich gründlich um, aber von schmutzigem Geschirr, verbrauchten Kaffeepads und einem fleckigen Geschirrtuch abgesehen, konnte er nichts auffälliges entdecken. Er atmete tief durch und setzte sich wieder an den Laptop.

"Du schätzt den Wert des Wortes Gottes falsch ein!", sagte die Stimme dieses Mal.

Klausen erstarrte, staunte dann aber, als er die nächsten Worte hörte.

"Eine Bibel aus dem Jahr 1704, mit Messingbeschlägen und Schweinsledereinband, illustriert mit Kupferstichen von Matthäus Merian, und in fast unbeschädigtem Zustand, wird zu Preisen zwischen 3.500 und 4.500 Euro gehandelt. Setze eine Festpreis von 3.900 Euro an, und du wirst noch heute jemanden finden, der diesen Preis zahlt."

Klausen tat, wie die Stimme ihm riet. Kaum hatte er das Angebot abgeschickt, hörte er weitere Worte:

"Du bist seit zwei Monaten und fünf Tagen arbeitslos. Der Agenturchef von Mediendesign Heuler sucht einen neuen Social Media Expert - aber er liest keine E-Mails und schon gar keine Papierpost. Schick ihm eine offene Twitter-Nachricht mit einem Link zu deinem Profil auf Xing. Er wird dich mit einem Posting an deine Facebook-Pinnwand zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Wenn du beim Vorstellungsgespräch kein blaues Hemd trägst, bekommst du den Job."

Klausen suchte den Twitternamen des Agenturchefs und schickte ihm darüber seine Bewerbung, wie es die Stimme vorgeschlagen hatte. Inzwischen waren ein paar E-Mails in seinem Posteingang angekommen. Jemand hatte seine alte Bibel für 3.900 Euro gekauft und das Geld bereits per Paypal angewiesen.

Die Stimme fuhr fort: "Dein Sohn und deine Frau vermissen dich. Dein Philipp hat seinen ICQ-Status auf 'Will zu Papa' gesetzt, und deine Frau Corinna hat ihren Beziehungsstatus von "getrennt" auf "es ist kompliziert" geändert. Einer Freundin hat sie per Skype erzählt, dass sie euch eine Chance geben will, wenn du den ersten Schritt machst. Sie ist im Moment übrigens unterwegs zum Café Melody, wo sie in den letzten drei Monaten schon sechs Mal war. Du kannst sie gegen acht dort treffen."

In diesem Moment traf eine weitere E-Mail ein. Es war eine Benachrichtigung über ein Posting an Klausens Facebook-Pinnwand - eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch am kommenden Montag.

Klausen drehte sich um und richtete den Blick dorthin, von wo die Stimme zu kommen schien. "Danke! Ich danke dir! Ich weiß gar nicht..." Dann hielt er für einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr "Du bist nicht böse, dass ich dein Buch verkauft habe?"

"Das ist nicht mein Buch", sagte die Stimme, "das ist das Wort Gottes. Davon abgesehen, nichts zu danken. Ich muss dann jetzt auch weiter. Bis bald."

Gebannt sahen Larry Page und Sergey Brin auf das riesige Display in ihrem Besprechungszimmer in Mountain View. "Das ging schon etwas weit. Findest du nicht, wir sollten uns etwas weniger in das Leben der Menschen einmischen?", fragte Larry. "Mag schon sein", antwortete Sergey, "aber du musst zugeben, die Idee mit dem sprechenden Googlebot ist unsere größte Innovation seit der Erfindung der Suchmaschine. Und Kunden, deren Werbebotschaft wir damit verbreiten, werden bald Schlange stehen. Der Vatikan hat übrigens schon gebucht."

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