Dienstag, 31. Mai 2011

Nicht alle Tassen

Ein weiteres Mal drückte Jürgen Groning den Auslöser. Das Bild, das im Display seiner Spiegelreflexkamera erschien, unterschied sich nur in Nuancen von den vorhergehenden. Er setzte den Objektivdeckel auf die Frontlinse, legte die Kamera in die Tasche auf dem Beifahrersitz und ließ den Motor an.

Sein Weg führte ihn vorbei an den imposanten verglasten Hochbauten der Banken und Versicherungen, dann durch ein Bürogebiet mit rot verklinkerten, drei- und vierstöckigen Flachbauten und weiter durch ein eher schmutziges Industrieviertel, an das sich ein in die Jahre gekommenes Wohngebiet anschloss, dessen dreistöckige Wohnhäuser noch überwiegend Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden waren. Vor einem der Häuser stellte Groning den Wagen ab und stieg aus. Er ging auf den Eingang eines Hauses zu, dessen Außenputz großflächig abgeplatzt war, und in dessen Erdgeschossfenstern das Glas größtenteils durch verschimmelnden Pappkarton ersetzt worden war.

Er drückte mit einigem Kraftaufwand die schwere Holztür auf, die nicht richtig ins Schloss gefallen war, und stieg die knarzende Holztreppe nach oben in den ersten Stock, wo der im Erdgeschoss fast unerträgliche modrig-feuchte Geruch ein wenig nachließ.

Groning klopfte laut gegen die Butzenscheibe der verglasten Wohnungstür, eine Klingel gab es hier oben nicht. Nach ein paar Sekunden hörte er, wie sich jemand mit schlurfenden Schritten von innen der Tür näherte. Die Tür ging einen Spalt von vielleicht zehn Zentimetern weit auf, mehr erlaubte die eingehängte Türkette nicht. Eine kleine, schlanke Frau mit schlohweißen, lockigen Haaren erschien dahinter. Sie trug einen hellblauen gesteppten Morgenmantel, und sah ihn mit ihren kleinen grünen Augen durch eine Hornbrille hindurch aufmerksam an.

"Hallo, Frau Wehmers", grüßte Groning die Frau, "ich habe etwas für Sie."

Ein Lächeln huschte über das Gesicht von Mathilde Wehmers, sie schloss die Tür, hängte die Türkette aus, und öffnete dann wieder.

"Herr Groning. Kommen Sie herein - aber entschuldigen Sie die Unordnung, ich habe heute nicht mit Besuch gerechnet."

Mit "Unordnung" musste Mathilde Wehmers die noch zur Hälfte mit Milchkaffee gefüllte Tasse gemeint haben, und vielleicht auch noch die beiden Tabletten, eine grüne Kapsel und eine weiße, runde Pulvertablette, die auf der Untertasse lagen, denn mehr stand in ihrer kleinen Küche nicht herum. Auf dem Weg zu ihrem Stuhl stellte sie das Radio ab, aus dem bis dahin Schlagermusik getönt hatte, und setzte sich.

"Möchten Sie sich einen Kaffee nehmen? Tassen und Zucker sind da oben im Schrank, Löffel in der Schublade, und Milch im Kühlschrank. Aber nehmen Sie sich bitte selbst, ich hab's heute schlimm im Rücken. Aber bitte nehmen Sie einen. Bei mir muss jeder einen Kaffee trinken."

Groning bedankte sich, nahm eine kleine Porzellantasse samt Untertasse aus dem Schrank und goss sich aus einer bis dahin noch zur Hälfte gefüllten Glaskanne tiefschwarzen Kaffee ein, dessen Duft den ganzen Raum zu erfüllen schien.

"Ach, Sie trinken ja schwarz", lachte die alte Frau, "Sie wollen wohl noch schön werden. Da kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen. Setzen Sie sich doch."

Groning lachte, setzte sich und nahm einen Schluck Kaffee. Dann öffnete er die Aktentasche, die er an das linke vordere Stuhlbein gelehnt hatte, nahm seine Kamera und einen kompakten Fotodrucker heraus, und sagte lächelnd: "Ich habe ihn gefunden!" Er verband Kamera und Drucker, tippte kurz auf den Tasten der Geräte herum, und knapp eine Minute später schob der Drucker ein postkartengroßes farbiges Foto aus dem Ausgabeschlitz. Groning schob das Foto über den Tisch zu Mathilde Wehmers, die darauf erst einmal ihre Brille abnahm und die Gläser im Stoff ihres Morgenmantels abwischte.

"Das ist er! Die Frau kenne ich nicht. Aber sein Lächeln, dieses Gesicht, das vergesse ich nie." Das Foto zeigte einen Mann und eine Frau, beide in den Dreißigern, die an einem Tisch im Garten eines augenscheinlich teuren Anwesens saßen. Sie las in einem Magazin, während er mit seinem Handy telefonierte.

"Jetzt muss Ihnen nur noch der Richter glauben", sagte Groning, "denn, ganz ehrlich, wir haben nicht viel: Auf dem Vertrag hat er nicht seien echten Namen genannt, auf Ihrer Durchschrift hat er keine Fingerabdrücke hinterlassen, und das Geld haben Sie ihm in bar gegeben. Da bleibt nur Ihre Aussage."

"Und dass das Wort einer alten Frau 500.000 Euro wert ist, daran glauben Sie nicht wirklich", vervollständigte Mathilde Wehmers ihn. "Glaub ich auch nicht", fügte sie dann hinzu, "aber diese Krimiserien im Fernsehen, die sind jeden Cent wert." Groning runzelte die Stirn, während sie fortfuhr: "Er war ja hier bei mir, um den Vertrag zu machen, und das Geld abzuholen, der nette Gauner. Machen Sie mal den Kühlschrank auf."

Groning sah in den Kühlschrank und verstand: Im mittleren Fach, sorgfältig eingewickelt in einen Gefrierbeutel, lag eine Porzellantasse, an der mit bloßem Auge ein kaffeebrauner Lippenabdruck zu erkennen war. "Seine DNS", sagte die alte Frau, "und seine Fingerabdrücke sind bestimmt auch drauf. Als er weg war, wollte ich die Tasse erst spülen, aber ich hatte so ein komisches Gefühl. Die Unterschrift, die hätte ja falsch sein können, aber was da drauf ist, das ist echt."

In diesem Augenblick klingelte Gronings Mobiltelefon. Nach einem kurzen Telefonat wandte er sich wieder Mathilde Wehmers zu: "Die Kollegen haben ihn auf dem Weg zum Flughafen festgenommen. Bei der Vernehmung hat er behauptet, Sie hätten nicht alle Tassen im Schrank. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hat." 

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