Dienstag, 10. Mai 2011

Das Konzert

Ja, er musste auf dieses Konzert, und nein, er konnte sie nicht mitnehmen. "Nie soll ich auf deine Konzerte", klagte sie, "noch nicht ein einziges Mal habe ich dich live hören können."

Damit tat sie ihm Unrecht. An so manchem Abend hatte er ihr auf der Gitarre vorgespielt und dazu gesungen, und in einem dieser Momente war ihr klar geworden, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Über die letzten beiden Jahre hatte sie ihn sicher öfter live gehört als jeder andere.

Aber es gab Dinge, die er nicht mit ihr teilte, von denen er offenbar nicht einmal wollte, dass sie sie auch nur aus der Ferne sah. Er hatte Freunde, darunter die Jungs aus seiner Band, die er ihr noch nie vorgestellt hatte, und er ging zu Treffen, über die er ihr gegenüber selten auch nur ein Wort verlor. "Das ist so ein Männer-Ding, das musst du respektieren", hatte er gesagt, "ich respektiere ja auch deine Weiber-Sachen."

"Jeder braucht seine Freiräume in einer Beziehung", hatte eine Freundin ihr gesagt, und sie hatte beschlossen, ihm diese Freiräume zu lassen. Bis heute, als sie glaubte zu fühlen, wie er sie mit sehnsüchtig-traurigem Blick musterte, bevor er seine Gitarre in das Gigbag packte und diese dann samt dem großen Marshall-Verstärker zu seinem alten VW Passat trug. Da hatte sie beschlossen, ihm diese Last von der Seele zu nehmen. Sie würde ihn überraschen, würde beim Konzert in der ersten Reihe stehen - oder sich sogar in den Backstagebereich schleichen. Sie malte sich aus, wie er und die Jungs von der Band nach dem Konzert hinter die Bühne gingen, und sie ihm dort um den Hals fallen würde. Wenn von draußen die Zugabe-Rufe immer lauter würden, dann würde er sie vielleicht sogar mit auf die Bühne nehmen und sie den Fans als seine "Muse" vorstellen, wie er sie manchmal nannte, und sie würde dort die letzten paar Songs ganz nah bei ihm verbringen können. Sie konnte ihr Herz pochen fühlen, wenn sie nur daran dachte.

Sie holte ihr kurzes weißes Sommerkleid mit den Spaghettiträgern aus dem Schrank. Sie wusste, er mochte dieses Kleid an ihr, das perfekt mit ihrer Haut kontrastierte, die braun wie dunkler Kakao war, und das ihre schlanken, langen Beine betonte. Sie war erst gestern bei ihrer Mutter gewesen, die ihr geholfen hatte, ihr Haar in dutzende von schmalen Zöpfen zu flechten, wie Frauen aus dem Senegal ihr Haar gern zu tragen pflegten. "Du bist wunderschön!", hatte er gesagt, als sie heimgekommen war, hatte sie in die Arme genommen und zärtlich geküsst. Sie waren jetzt zwei Jahre zusammen, aber immer noch gab es Tage, an denen sie vor Verliebtheit wie auf Wolken ging.

Er hatte ihr nicht gesagt, wo und wann er genau spielen würde, aber ihm war vor zwei Tagen ein Zettel aus der Tasche gefallen, auf dem er eine Anschrift notiert hatte, den Vereinssaal einer Schützenbruderschaft aus der Nachbarstadt. Sie kannte den Saal, schließlich hatte sie mit ihren Eltern lang genug in der Nachbarstadt gewohnt. Es waren keine guten Erinnerungen, die sie mit diesem Ort verband, aber das war ja alles lange her.

Als sie beim Vereinssaal ankam, war sie etwas verwundert: Nirgends hing ein Plakat, auf dem für heute ein Konzert angekündigt worden wäre. Aber es bestand kein Zweifel: Aus dem Gebäude drang der kraftvolle Sound verzerrter Gitarren und wummernder Bässe, und jemand schien zu singen, auch wenn der Text von hier aus nicht zu verstehen war. Vor dem Haupteingang standen zwei breitschultrige junge Männer mit kurz geschorenen Haaren, auf deren Jacken das Wort "SECURITY" aufgedruckt war, und die übellaunig ihre Blicke kreisen ließen.

Das Konzert war offenbar schon in vollem Gange, es würde ihr kaum gelingen, sich bis in die erste Reihe vor zu arbeiten. Doch es gab einen etwas versteckten Eingang, der direkt hinter die Bühne führte. Sie wusste das, weil sie in der vierten Klasse der Grundschule hier bei einer Theateraufführung mitgemacht hatte. Sie ging in weitem Bogen um das Gebäude, und hoffte inständig, dort würde kein Aufpasser stehen - oder wenigstens einer mit Herz, der ihr glaubte, dass sie die Freundin des Gitarristen sei, und sie hinter die Bühne ließe. Sie hatte Glück: Niemand passte auf den Bühneneingang auf. Sie öffnete die Tür und schlich sich zum rechten seitlichen Bühnenaufgang. Besonders leise musste sie dabei freilich nicht sein: Selbst überlaute Geräusche gingen in dem Lärm unter, der sich von der Bühne aus in alle Richtungen ergoss.

Das Stück, das sie gerade spielten, endete mit einem rasanten Schlagzeugsolo. Die Menge skandierte "Zugabe! Zugabe! Zugabe!" . Sie konnte sehen, wie der Bassist, der zugleich der Sänger war, wieder nach vorn ans Mikro trat.

"Kameraden! Genug ist Genug! Lasst uns den Abend beschließen mit einer Huldigung an den Herrn! Den einen, der uns führt! Den LENKER DER SCHLACHTEN!" Die Menge begann zu johlen, Bass, Gitarre und Schlagzeug setzten ein, ganz offenbar gaben sie ihre letzte Zugabe. In diesem Moment beschloss sie, gleich nach dem Song zu ihm auf die Bühne zu rennen und ihm dort vor all seinen Freunden um den Hals zu fallen. Sie musste nur noch den Song abwarten. Der Bassist sang jetzt, aber die Worte waren dort, wo sie stand, kaum zu verstehen. Am Ende des Stückes kam sein großer Auftritt - erst eine ruhige, fast unverzerrt gespielte Passage, die dann in ein E-Gitarrensolo mündete: Sie himmelte ihn vom Bühnenrand aus an und konnte ihr Herz bis in den Hals hinauf spüren. Dann war er endlich da, der Schlussakkord, und wie sie es sich vorgenommen hatte, rannte sie auf die Bühne, schob seine Gitarre auf die Seite, presste sich an ihn und küsste ihn leidenschaftlich.

Mit einem Mal war es still geworden. Mehr als dreihundert Augenpaare sahen aus dem Zuschauerraum hinauf zu der hübschen jungen Afrikanerin, wie sie im gleißenden Scheinwerferlicht den Gitarristen küsste. Sie spürte, wie nicht nur ihres, sondern nun auch sein Herz bis zum Hals klopfte. Sie nahm ihre Lippen von seinen und blickte sich lächelnd um. Dann erst sah sie die Bühnendekoration: Ein wandgroßes, rotes Tuch mit einem kreisrunden, weißen Feld in der Mitte, auf dem ein Hakenkreuz prangte. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, sagte leise "Wir sind am Arsch!", und küsste sie noch einmal.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen