Freitag, 20. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 17

"Es ist nicht Maria! Nicht mit Bogdan! Niemals!" Enrico Cabagnelli brüllte in sein Telefon, während seine Nichte Gianna im Ristorante Pinocchio den Hörer ein Stück weit von ihrem Ohr weg hielt. Die Stimme des Italieners war kurz davor, sich zu überschlagen. "Lucia ist tot: Sie war ihre Freundin. Sven Klöckner ist tot: Sie weiß nicht einmal, wer das ist. Jürgen ist tot: Sie hat mich vor drei Stunden noch gefragt, ob er sie am Donnerstag nach Rom fliegen kann, sie wusste nicht, dass er gestern abgestürzt ist. Sie ist es nicht, sie hat nichts damit zu tun!"

Stieglitz konnte jedes Wort mithören und frage sich einen Moment lang, ob er nun doch noch seinen Job los würde, und wenn ja, welche Konsequenzen sich daraus für ihn ergäben. So oder so würde er seine Ermittlungen fortsetzen müssen, schon aus seinem Selbsterhaltungstrieb heraus. So lange er in Cabagnellis Auftrag ermittelte, würde er sich allerdings keine Sorgen um die erforderlichen Mittel machen müssen. Und er würde Giannas Gesellschaft genießen. "Sag Stieglitz", hörte er in diesem Moment Cabagnellis Stimme aus dem Telefon, "sag Stieglitz alles, was er über Bogdan wissen muss. Er muss sich nicht mehr auf Maria konzentrieren, er soll Bogdan für mich finden. Bogdan hat uns eine Botschaft geschickt, und ich werde ihm antworten. Er soll Bogdan finden, sag ihm das."

Nachdem Enrico Cabagnelli aufgelegt hatte, sah sich Gianna angespannt lächelnd im Restaurant um, aber offenbar hatte das Telefonat weiter keine Aufmerksamkeit erregt. 

"Ich denke", sagte Stieglitz, "ich habe das Wesentliche verstanden. Herr Cabagnelli ist nicht gerade der leiseste, wenn er telefoniert. Aber vielleicht machen wir nach dem Dessert noch einen kleinen Spaziergang, und Sie klären mich über die Details auf, die ich nicht gehört habe. Und die, die Sie mir bislang verschwiegen haben."

Gianna presste ihre Lippen zusammen und nickte. Mit ernstem Gesicht nippte sie an ihrem Espresso corretto. Aus den Lautsprechern drang jetzt der swingende Gesang von Raphael Gualazzi, der so gar nicht zu der Stimmung passen wollte, die nach der erneuten Todesnachricht merklich gekippt war. Stieglitz winkte dem Kellner mit seiner Brieftasche. "Zahl immer bar", gingen ihm die Worte von Frank Lippert durch den Kopf, "oder mit einer gestohlenen Kreditkarte, die niemand mit dir in Verbindung bringen kann." Darauf wäre Stieglitz freilich auch selbst gekommen: Er selbst hatte oft genug mit Hilfe von Kreditkartenabrechnungen Bewegungsprofile von Zielpersonen erstellt oder deren Spur verfolgt.

Der Kellner brachte eine Rechnung über 45,80 Euro, die Stieglitz auf 50 Euro aufrundete. Das war weder so viel Trinkgeld, dass sich der Kellner wegen seiner Großzügigkeit an ihn erinnern würde, noch so wenig, dass er ihn als Geizkragen im Gedächtnis behalten würde. Allerdings konterkarierte Gianna sein Bemühen um Unauffälligkeit mit ihrem schwarzen, schulterfreien Kleid, das zwei Handbreit oberhalb ihrer Knie auch schon wieder zu Ende war und gleichermaßen seriös wie sexy wirkte. Während der Hosenanzug, den sie am Morgen getragen hatte, sie eher geschlechtslos hatte wirken lassen, zog sie in dem Kleid, das sie nun trug, die interessierten Blicke der meisten Männer auf sich. Stieglitz zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie sich der Wirkung ihres Äußeren bewusst war.

Stieglitz hätte für sich selbst zwar Jeans und T-Shirt bevorzugt, hatte sich dann aber doch für den dezenten grauen Anzug in Kombination mit einem schwarzen Hemd und einer lila gemusterten Seidenkrawatte entschieden, die Gianna aus seinem Kleiderschrank mitgebracht hatte. Äußerlich passten die beiden durchaus zusammen, doch für ein Ehepaar hätte sie wohl kaum jemand gehalten: Man sah ihnen die Aufmerksamkeit und Neugier an, mit der sie einander beobachteten, und die bei Eheleuten im Laufe der Zeit einer routinierten Vertrautheit zu weichen pflegte. Es gab auch keine der gewohnten, aber weitgehend bedeutungslos gewordenen Berührungen, wie man sie nach einiger Zeit bei Paaren beobachten kann. Immerhin bot er ihr seinen Arm an, sie hakte sich unter und sie gingen aus dem Restaurant in Richtung Altstadt. Es hatte aufgehört zu nieseln, das noch nasse Kopfsteinpflaster reflektierte das Licht der Straßenlaternen.

Während sie schweigend ein Stück gingen, dachte Stieglitz darüber nach, wem der Tod dieser Menschen überhaupt einen Nutzen brächte. Außer der Tatsache, dass sie alle zum Umfeld der Cabagnellis gehört hatten,  gab es keine Gemeinsamkeiten. Doch, eine: Sie alle hatten zwar zu seinem Umfeld gehört, aber bislang kein einziger zur Familie selbst. Dann schweiften seine Gedanken zu Gianna und zu der Tatsache, dass sie diese Nacht, und wohl noch weitere Nächte, gemeinsam in einem Hotelzimmer verbringen würden. Dann musste er ein Lachen unterdrücken: Seine Ex-Frau, von der er vor vier Jahren geschieden worden war, hatte ihn in den unmöglichsten Momenten gefragt "Was denkst Du?", und oft unwirsch reagiert, wenn er zugegeben hatte, mit den Gedanken noch bei seiner Arbeit gewesen zu sein. Deshalb hatte er es sich angewöhnt, diese Frage stets mit einem Kompliment oder einer romantischen Anekdote zu beantworten. "Ich habe gerade gedacht, wie toll dir dieses Kleid steht", oder "Ich musste gerade daran denken, was für ein riesiges Glück ich hatte, dass du mir damals beim Ausparken über den Fuß gefahren bist. Sonst hätten wir uns ja nie kennengelernt." Meist hatte er in Wahrheit an lächerlich banale Dinge gedacht. Würde ihn nun aber Gianna nach seinen Gedanken fragen, dann täte er wohl besser daran, über seine Arbeit zu reden.

"Woran denken Sie?", fragte Gianna.

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