"Diese Kaltblütigkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut", lächelte Gianna Modugno. Stieglitz und sie saßen jetzt im Pinocchio und warteten auf ihr Essen.
"Ich Ihnen schon", entgegnete Stieglitz, "von Berufs wegen. Ihres Berufs wegen, um genau zu sein."
Von außen wirkte die Pizzeria sehr einfach, schon fast etwas schäbig, doch das Innere entschädigte dafür vollständig. Der Innenraum war fast quadratisch, und maß in jede Richtung in etwa acht Meter. Die Wände waren mit einer Art cremefarbenem Glanzputz versehen, in den die Maler eine dezente Bordüre eingearbeitet hatten. Der Boden wirkte auf den ersten Blick, als sei er aus hellem Marmor, und nur Kenner konnten darin ein strapazierfähiges Laminat erkennen. Der hintere Bereich, von dem aus eine Tür in die Küche führte, war durch einen Tresen abgetrennt, der mit dem gleichen Material verkleidet zu sein schien. Die Tische waren teils für Vierergruppen zusammengestellt, zum größeren Teil standen sie jedoch einzeln, sodass an ihnen zwei Personen gemeinsam essen konnten. Auf makellosen weißen Tischdecken lagen ebensolche Stoffservietten, und in der Mitte jedes Tisches stand eine einzelne Kerze aus rotem Wachs in einem schlichten Metallkerzenständer. Die Stühle waren mit Korb durchflochtene Stahlgestelle mit hoher Rückenlehne, die beim Setzen und Aufstehen federnd ein klein wenig nachgaben.
"Sie mögen keine Anwälte?" Gianna blinzelte Stieglitz herausfordernd zu. "Es stimmt, mein Berufsstand ist nicht besonders beliebt, aber was ist mit Ihrem? Einem Schnüffler steht der erhobene Zeigefinger auch nicht gut zu Gesicht."
"Na ja, wir Schnüffler sammeln eigentlich nur Puzzleteilchen ein und setzen sie zusammen, bis daraus ein Bild entsteht, das der Wahrheit einigermaßen entspricht. Und dann kommt Ihr Anwälte, bearbeitet unsere Puzzleteilchen mit Schere und Filzstift, werft die Teile weg, die euch nicht passen und malt die Lücken in den buntesten Farben aus, damit eure Mandanten um so vieles hübscher aussehen, als sie in Wahrheit sind."
"Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Anwälte also die natürlichen Feinde des Schnüfflers?"
"Aber nein", sagte Stieglitz in einem beschwichtigend-spöttischen Tonfall, "sie sind die natürlichen Feinde des Menschen."
"So, so", lachte Gianna, "Sie haben also den natürlichen Feind des Menschen zum Essen eingeladen?!"
"Ach wissen Sie", entgegnete Stieglitz, der ebenfalls lachte, "der Mensch an sich taugt nicht viel, der hat sich seine Feinde redlich verdient."
In diesem Augenblick brachte ein in eine weiße Jeans und ein ebensolches T-Shirt gekleideter Kellner eine Flasche Calabrese d’Avola, und goss einen Schluck der tiefroten Flüssigkeit in Stieglitz' Glas. Der kostete und nickte dem Kellner zu, worauf dieser erst Gianna, dann Stieglitz die Gläser füllte.
Stieglitz hob sein Glas, um anzustoßen und sah Gianna dabei lächelnd in die Augen. In der Luft lag der mildwürzige Duft mediterraner Speisen. Der sanft-rauhe Gesang von Tiziano Ferro und das flackernde Kerzenlicht trugen wohl das ihre dazu bei, in Stieglitz Gefühle wach zu rufen, die er in diesem Augenblick zwar als ganz und gar deplatziert empfand, deren Präsenz er aber um so deutlicher spürte.
"Auf Teufel und Beelzebub", sagte Stieglitz, "auf den Schnüffler und die Anwältin".
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