"Wo waren Sie während des Überfalls?" "Was haben Sie beobachtet?" "Wie viele Täter haben Sie gesehen?" "Können Sie die Täter beschreiben?" "Haben Sie in den Minuten vor dem Überfall etwas ungewöhnliches bemerkt?" Dass bei einer polizeilichen Ermittlung jeder der Zeugen die selben Fragen mehrfach gegenüber verschiedenen Polizeibeamten beantworten muss, ist keine Ermittlungstaktik, sondern ein schlichter Mangel an Koordination.
Wie jeden anderen der Gäste und Angestellten hatten die Ermittler auch Maria Cabagnelli befragt. Auf einer Skizze hatte sie markieren sollen, wo sich jeder einzelne zum Zeitpunkt des Überfalls aufgehalten hatte. Sie hatte die Polizisten darauf aufmerksam gemacht, dass sie selbst zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Gastraum gewesen sei, dennoch hatten die Beamten sie gedrängt, die Skizze zu vervollständigen. Erst danach hatten sie ihr eine Betreuung durch einen Psychologen angeboten, der etwa eine halbe Stunde nach den ersten Beamten am Ort des Geschehens eingetroffen war. Maria Cabagnelli hatte dankend abgelehnt und war vor die Tür getreten. Drinnen war ihre Freundin Andrea noch mit ihrer Aussage beschäftigt, die sie immer wieder laut schluchzend unterbrechen musste.
Die Sonne war längst untergegangen, aber die Scheinwerfer der in dichter Folge vorbeifahrenden Autos und Motorräder, die Straßenlaternen, die beleuchteten Reklameschilder und das Licht, das aus Dutzenden von Cafés, Bars und Restaurants drang, hatten die Straße erhellt. Ein feiner Nieselregen hatte Maria Cabagnellis Gesicht benetzt.
Sie hatte ihr Telefon aus ihrer Handtasche genommen und Enricos Nummer gewählt. Erst hatte Enrico sie reden lassen - hastig und unter Tränen hatte sie Stück für Stück hervorgestoßen, was geschehen war, bis Enrico ihre Geschichte zu einem erschreckenden Ganzen zusammensetzen konnte. Dann hatte er ihr vorgeschlagen, zu Manuela, der Frau des angeschossenen Kellners hinauf zu gehen, und dort auf ihn zu warten, doch die war mit in den Krankenwagen gestiegen und hatte Gian Lucas Hand gehalten. Maria hatte Enrico dann gesagt, sie würde auf ihn in dem kleinen Park warten, der ein paar hundert Meter die Straße hinunter auf der rechten Seite lag. Enrico war damit zuerst nicht einverstanden gewesen, er hätte es lieber gehabt, sie an einem sicheren Ort zu wissen. "So sicher wie ein Ristorante? Nur der Tod ist sicher", hatte sie - mit einem Mal eiskalt - erwidert, "und der war heute schon da."
Jetzt hatte sie gerade den Zugang zum Park erreicht. Der Weg in den Park war von hohen, uralten Eichen gesäumt, zwischen denen alle fünfzig Meter Parkbänke aufgestellt waren. Jede der Bänke stand im Licht einer Parklaterne. Die Stadt hatte vor kurzem neue Solarlaternen aufgestellt, die tagsüber ihre Akkus an der Sonne aufluden. Die hatte ein Mitglied des Stadtrats auf einer Messe entdeckt und die Chance gesehen, sich für die nächste Wahl zu profilieren, bei der Umweltthemen, wie stets in den letzten Jahren, eine große Rolle spielen würden. Doch die Messeneuheiten litten noch unter technischen Kinderkrankheiten: Schon nach ein paar Monaten im Einsatz waren einige der Akkus reif für die Schadstoffsammlung und manche Solarzellen durch Taubendreck funktionsuntüchtig geworden. Vorsichtig geschätzt, war inzwischen jede dritte Parklaterne unbrauchbar.
Maria ging etwa hundert Meter in den Park hinein, wo sie die Geräusche der Stadt schon nicht mehr hören konnte. Ohne den Kopf zu drehen, ging sie an einer Gestalt vorüber, die, augenscheinlich in sich versunken, auf der ersten Parkbank kauerte. Die Gestalt hatte die Kapuze eines Jogginganzugs über den Kopf gezogen und stützte, die Ellenbogen in die Oberschenkel gestemmt, das Kinn in die Hände.
Maria blieb bei der zweiten Parkbank stehen, die von einer defekten Lampe in ein schwaches Flackerlicht gehüllt wurde, das an ein fernes, aber anhaltendes Gewitter erinnerte. Hinter sich hörte sie ein Krachen - weniger, wie wenn jemand auf einen Zweig tritt, mehr wie wenn jemand einen Ast von einem Baum reißt. Sie drehte sich um, sah aber nichts, was das Geräusch hätte verursacht haben können. Die Gestalt, die auf der ersten Parkbank gesessen hatte, war verschwunden.
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