Dienstag, 31. Mai 2011

Nicht alle Tassen

Ein weiteres Mal drückte Jürgen Groning den Auslöser. Das Bild, das im Display seiner Spiegelreflexkamera erschien, unterschied sich nur in Nuancen von den vorhergehenden. Er setzte den Objektivdeckel auf die Frontlinse, legte die Kamera in die Tasche auf dem Beifahrersitz und ließ den Motor an.

Sein Weg führte ihn vorbei an den imposanten verglasten Hochbauten der Banken und Versicherungen, dann durch ein Bürogebiet mit rot verklinkerten, drei- und vierstöckigen Flachbauten und weiter durch ein eher schmutziges Industrieviertel, an das sich ein in die Jahre gekommenes Wohngebiet anschloss, dessen dreistöckige Wohnhäuser noch überwiegend Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut worden waren. Vor einem der Häuser stellte Groning den Wagen ab und stieg aus. Er ging auf den Eingang eines Hauses zu, dessen Außenputz großflächig abgeplatzt war, und in dessen Erdgeschossfenstern das Glas größtenteils durch verschimmelnden Pappkarton ersetzt worden war.

Samstag, 28. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 18

Maria Cabagnelli blickte nach oben zu der flackernden Laterne und folgte mit den Augen dem sich nach unten erweiternden Lichtkegel, aber da war nichts auffälliges. Die Parklaternen gaben nicht genug Licht, als dass sie eine frische Bruchstelle an einem der Bäume hätte erkennen können, und selbst wenn, brachen Äste ja mitunter auch ohne fremdes Zutun von Bäumen. Und dass der Fremde, der dort eben noch gesessen hatte, nun nicht mehr da war, musste ebenfalls nichts zu bedeuten haben.

Maria ging in gemessenem Tempo zurück in die Richtung, in der der Eingang des Parks lag. Außer dem feuchten Knirschen des Schotters unter ihren Füßen und einem leisen Rauschen, das der Wind in den Blättern der Bäume verursachte, war nichts zu hören.

"Psssst!" Wie aus dem Nichts war hinter ihr die Gestalt mit der Kapuze aufgetaucht, umfasste nun mit dem linken Arm ihre Hüfte und drückte ihr mit der rechten Hand den Mund zu, sodass sie keinen Laut von sich geben konnte.

Donnerstag, 26. Mai 2011

Anhörung

Das Web, so wird jedenfalls immer wieder behauptet, macht lesefaul. Ich halte das für eine gewagte These, denn bis heute besteht der ganz überwiegende Inhalt des Web ja gerade aus geschriebenen Worten. Wer das Web intensiv nutzt, liest nicht weniger, sondern mehr.

Nichtsdestoweniger kann ich bei mir selbst hin und wieder beobachten, wie ich einen länglichen Text, auf den ich beim Surfen gestoßen bin, erst einmal bis zum Ende scrolle, und mich, wenn mir er als zu lang erscheint, dann doch mit anderen Dingen beschäftige. Das ist in zweierlei Hinsicht kontraproduktiv: Viele - inhaltlich vielleicht durchaus interessante und nützliche - Texte entgehen mir, und selbst wenn ich den Text nach dem Scrollen doch noch lesen sollte, hat mir der vorzeitige Blick aufs Ende die Pointe oder den Spannungsbogen versaut. Falls Ihnen das auf diesen Seiten ähnlich geht, oder Sie tatsächlich lieber zuhören als lesen, habe ich eine gute Nachricht: 

Montag, 23. Mai 2011

Gute Reise

"Dann gute Reise!"

"Was meinst du damit? Was für eine Reise wünschst du mir?"

"Eine gute, das hab ich doch gesagt."

"Ja, aber was verstehst du unter einer guten Reise? Ich will doch wissen, was du mir eigentlich wünschst."

"Na, erstmal, dass dir nichts passiert. Dass dein Flugzeug nicht abstürzt, dass du keinen Unfall hast, dass du nicht ausgeraubt wirst, und so weiter."

"Deine Ansprüche an 'gut' sind ja eher bescheiden. Ist 'gut' für dich wirklich bloß die Abwesenheit von 'schlecht'? Oder kommt da noch was?"

Samstag, 21. Mai 2011

Die Zugfahrt

Ein Sturm blies an jenem Abend über den Westen des Landes, wie es schon lange keinen mehr gegeben hatte. Der Wind riss Dächer ein, brach Äste von Bäumen ab, knickte Ampelanlagen. Noch fuhren die Züge ungehindert, aber die großen Glasscheiben, die das Wartehäuschen am Bahnhof Sennestadt umgaben, vibrierten so unberechenbar, dass Alexander Ellert, offenbar der einzige, der den 22-Uhr-Zug nach Paderborn nehmen wollte, ein Stück weit rechts davon im freien auf den Zug wartete.

Mit acht Minuten Verspätung kam der Zug am Bahnhof an. Ellert entriegelte die Tür des hinteren Wagens und schloss sie mit einem kräftigen Ruck gleich wieder hinter sich. Der Wagen war fast leer, von einem Teenagerpärchen abgesehen, das knutschend auf einer Sitzbank am anderen Ende saß, und einer korpulenten Frau in den Fünfzigern, die von ihrem Platz in der Mitte des Wagens aus missbilligende Blicke in Richtung der Teenager warf.

Freitag, 20. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 17

"Es ist nicht Maria! Nicht mit Bogdan! Niemals!" Enrico Cabagnelli brüllte in sein Telefon, während seine Nichte Gianna im Ristorante Pinocchio den Hörer ein Stück weit von ihrem Ohr weg hielt. Die Stimme des Italieners war kurz davor, sich zu überschlagen. "Lucia ist tot: Sie war ihre Freundin. Sven Klöckner ist tot: Sie weiß nicht einmal, wer das ist. Jürgen ist tot: Sie hat mich vor drei Stunden noch gefragt, ob er sie am Donnerstag nach Rom fliegen kann, sie wusste nicht, dass er gestern abgestürzt ist. Sie ist es nicht, sie hat nichts damit zu tun!"

Stieglitz konnte jedes Wort mithören und frage sich einen Moment lang, ob er nun doch noch seinen Job los würde, und wenn ja, welche Konsequenzen sich daraus für ihn ergäben. So oder so würde er seine Ermittlungen fortsetzen müssen, schon aus seinem Selbsterhaltungstrieb heraus. So lange er in Cabagnellis Auftrag ermittelte, würde er sich allerdings keine Sorgen um die erforderlichen Mittel machen müssen. Und er würde Giannas Gesellschaft genießen. "Sag Stieglitz", hörte er in diesem Moment Cabagnellis Stimme aus dem Telefon, "sag Stieglitz alles, was er über Bogdan wissen muss. Er muss sich nicht mehr auf Maria konzentrieren, er soll Bogdan für mich finden. Bogdan hat uns eine Botschaft geschickt, und ich werde ihm antworten. Er soll Bogdan finden, sag ihm das."

Dienstag, 10. Mai 2011

Das Konzert

Ja, er musste auf dieses Konzert, und nein, er konnte sie nicht mitnehmen. "Nie soll ich auf deine Konzerte", klagte sie, "noch nicht ein einziges Mal habe ich dich live hören können."

Damit tat sie ihm Unrecht. An so manchem Abend hatte er ihr auf der Gitarre vorgespielt und dazu gesungen, und in einem dieser Momente war ihr klar geworden, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Über die letzten beiden Jahre hatte sie ihn sicher öfter live gehört als jeder andere.

Aber es gab Dinge, die er nicht mit ihr teilte, von denen er offenbar nicht einmal wollte, dass sie sie auch nur aus der Ferne sah. Er hatte Freunde, darunter die Jungs aus seiner Band, die er ihr noch nie vorgestellt hatte, und er ging zu Treffen, über die er ihr gegenüber selten auch nur ein Wort verlor. "Das ist so ein Männer-Ding, das musst du respektieren", hatte er gesagt, "ich respektiere ja auch deine Weiber-Sachen."

Sonntag, 8. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 16

"Wo waren Sie während des Überfalls?" "Was haben Sie beobachtet?" "Wie viele Täter haben Sie gesehen?" "Können Sie die Täter beschreiben?" "Haben Sie in den Minuten vor dem Überfall etwas ungewöhnliches bemerkt?" Dass bei einer polizeilichen Ermittlung jeder der Zeugen die selben Fragen mehrfach gegenüber verschiedenen Polizeibeamten beantworten muss, ist keine Ermittlungstaktik, sondern ein schlichter Mangel an Koordination.

Wie jeden anderen der Gäste und Angestellten hatten die Ermittler auch Maria Cabagnelli befragt. Auf einer Skizze hatte sie markieren sollen, wo sich jeder einzelne zum Zeitpunkt des Überfalls aufgehalten hatte. Sie hatte die Polizisten darauf aufmerksam gemacht, dass sie selbst zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Gastraum gewesen sei, dennoch hatten die Beamten sie gedrängt, die Skizze zu vervollständigen. Erst danach hatten sie ihr eine Betreuung durch einen Psychologen angeboten, der etwa eine halbe Stunde nach den ersten Beamten am Ort des Geschehens eingetroffen war. Maria Cabagnelli hatte dankend abgelehnt und war vor die Tür getreten. Drinnen war ihre Freundin Andrea noch mit ihrer Aussage beschäftigt, die sie immer wieder laut schluchzend unterbrechen musste.

Freitag, 6. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 15

"Diese Kaltblütigkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut", lächelte Gianna Modugno. Stieglitz und sie saßen jetzt im Pinocchio und warteten auf ihr Essen.

"Ich Ihnen schon", entgegnete Stieglitz, "von Berufs wegen. Ihres Berufs wegen, um genau zu sein."

Von außen wirkte die Pizzeria sehr einfach, schon fast etwas schäbig, doch das Innere entschädigte dafür vollständig. Der Innenraum war fast quadratisch, und maß in jede Richtung in etwa acht Meter. Die Wände waren mit einer Art cremefarbenem Glanzputz versehen, in den die Maler eine dezente Bordüre eingearbeitet hatten. Der Boden wirkte auf den ersten Blick, als sei er aus hellem Marmor, und nur Kenner konnten darin ein strapazierfähiges Laminat erkennen. Der hintere Bereich, von dem aus eine Tür in die Küche führte, war durch einen Tresen abgetrennt, der mit dem gleichen Material verkleidet zu sein schien. Die Tische waren teils für Vierergruppen zusammengestellt, zum größeren Teil standen sie jedoch einzeln, sodass an ihnen zwei Personen gemeinsam essen konnten. Auf makellosen weißen Tischdecken lagen ebensolche Stoffservietten, und in der Mitte jedes Tisches stand eine einzelne Kerze aus rotem Wachs in einem schlichten Metallkerzenständer. Die Stühle waren mit Korb durchflochtene Stahlgestelle mit hoher Rückenlehne, die beim Setzen und Aufstehen federnd ein klein wenig nachgaben.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 14

Das San Lorenzo, zur besten Zeit, voll mit Gästen, und seine Schwiegertochter Maria nur durch einen glücklichen Zufall  nicht im Gästeraum, eine ihrer Freundinnen tot, Gian Luca, der Oberkellner, auf der Intensivstation, die Kasse geraubt: Sergio Cabagnelli saß an einem wuchtigen antiken Schreibtisch in seiner Bibliothek und ließ sich von seinem Sohn Enrico am Telefon jede Einzelheit des Überfalls schildern, so wie Enrico sie in Erfahrung gebracht hatte. Vor ihm lag ein aufgefächerter Papierstapel. Die einzelnen Seiten waren eng mit einer altmodischen Schreibmaschine beschrieben. Rechts davon lagen übereinander drei im A4-Format ausbelichtete Farbfotos.

"Wer ist das?! Wer tut das?! Das ist unsere gottverdammte Stadt!" In Enricos Wut mischten sich Unglauben und leise Verzweiflung, so als könnten nur überirdische, unbezwingbare Mächte es überhaupt gewagt haben, das Protektorat der Cabagnellis anzurühren. Und in der Tat hatten er dafür gesorgt, dass in der ganzen Stadt kein Ladendieb auch nur eine Schachtel Zigaretten aus einem Laden zu stehlen wagte, der den Schutz der Cabagnellis genoss.