Donnerstag, 21. April 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 10

"Spielzeug für Nerds", grummelte Stieglitz, während er sein Auto aufschloss und einen kleinen Koffer voll mit elektronischen Geräten und rätselhaften mechanischen Werkzeugen auf den Beifahrersitz legte. Frank Lippert hatte ihm eine Menge Equipment mitgegeben, aber keine Schusswaffe. Stieglitz hatte ihm von bisherigen Todesfällen berichtet und musste sich Lipperts Argument geschlagen geben, keinem der Opfer hätte eine Schusswaffe das Leben gerettet. Bei Georg Fauster, dem Bordellbetreiber, der aus dem Fenster gestürzt - oder gestürzt worden - war, hatte die Polizei sogar eine Schusswaffe gefunden, die unangerührt im Schulterholster des Toten gesteckt hatte.

"Du hast hier keinen Revolverhelden vor dir, der seine Gegner im Morgengrauen vor dem Saloon erwartet. Und das ist auch keine Machtdemonstration, bei der von Kugeln durchsiebte Leichen weitere Gegner - von wem auch immer - einschüchtern sollen. Zwei Unfälle, ein Herzleiden, und ein Feuer, bei dem Brandstiftung genau so wahrscheinlich ist wie eine Verkettung unglücklicher Zufälle: Wenn es sich überhaupt um Morde handelt...", hatte Lippert seine Zweifel zum Ausdruck gebracht.


Dann hatte Stieglitz' Mobiltelefon geklingelt und er hatte einen Augenblick mit Gianna Modugno telefoniert. "Dazu kommen noch drei Tote bei einem Banküberfall, und einer bei einem Flugzeugabsturz", hatte Stieglitz danach, etwas blasser, Lipperts Aufzählung ergänzt. "Das einzige Muster ist die Verbindung der Toten zu Cabagnelli - von den drei Toten in der Bank stand allerdings nur einer mit Cabagnelli in Verbindung. Aber alle anderen waren Freunde, oder zumindest Geschäftsfreunde, der Familie."

"Gut", hatte Lippert gesagt, "so viele Tote innerhalb eines begrenzten Personenkreises und innerhalb eines Zeitraums von wenigen Wochen sind nicht durch bloßen Zufall zu erklären", und dann hatte er begonnen, die Todesfälle Stück für Stück auseinander zu nehmen, um doch noch ein paar Muster mehr sichtbar zu machen:

Die - ausnahmsweise offenkundigen - Morde in der Bank, der Flugzeugabsturz und der Tote, der durch einen Brand ums Leben gekommen war, dokumentierten nach Lipperts Auffassung, dem Täter seien Kollateralschäden gleichgültig, es habe also im Ernstfall keinen Wert, sich in eine Menschenmenge zu flüchten. Sah man sich die Todesfälle in ihrer Gesamtheit an, schien der Täter zudem umfangreiche technische Kenntnisse zu besitzen, sich in der Verwendung von Giften auszukennen, und über ausreichend innere Kälte zu verfügen, seine Opfer aus dem Fenster zu stoßen, zu überfahren und mit Kopfschüssen hinzurichten. Er schien außerdem gezielt seine Tötungsmethoden zu variieren. "Du hast es nicht mit einem Mörder zu tun", hatte Lippert geschlussfolgert, "sondern mit einem ganzen Rudel von Mördern, deren Arbeit jemand wahrscheinlich zentral koordiniert. Kurz und gut: Willkommen im Mafiakrieg."

Etwas ähnliches war Stieglitz auch schon in den Sinn gekommen. Maria Cabagnelli allein wäre zu einer solchen Mordserie allein logistisch kaum in der Lage gewesen, falls sie überhaupt damit in Verbindung stand. Doch jetzt ging es ihm erst einmal darum, sich selbst zu schützen.

"Man kann jemanden nur töten, wenn man weiß, wo er sich aufhält", hatte Lippert geraten, "Tarnen, täuschen und in Bewegung bleiben ist das ganze Geheimnis." Tarnen und Täuschen war für Stieglitz vertrautes Terrain. Wenn er mutmaßlich untreuen Ehepartnern nachstellte, pflegte er in kurzen Abständen Kleidung und Kopfbedeckung zu wechseln, arbeitete auch schon mal mit Brillen und falschen Bärten, fuhr mit Taxen und wechselnden Mietwagen hinter seinen Zielpersonen her. Neu war ihm allerdings Lipperts Rat gewesen: "Sie wissen, wo du wohnst. Schick jemanden in deinen Wohnung, lass dir einpacken, was du brauchst, und zieh unter falschem Namen in ein Hotelzimmer, das du möglichst täglich wechselst."

Der nächste Ratschlag war ihm zunächst sympathischer gewesen: "Wenn sie dich trotzdem aufspüren, kannst du nur überleben, indem du dich schützt." Doch statt der erhofften Waffe hatte ihm Lippert eine Schutzweste und ein Suspensorium aus dem Ausrüstungspool seiner Firma geholt, die ihn vor Schüssen, Tritten und Stichverletzungen schützen sollten. "Fühl dich damit nicht zu sicher", hatte Lippert ihn belehrt, "einen Stich in die Oberschenkelarterie oder einen Schuss in den Kopf überlebst du trotzdem nicht." Das hätte er sich sparen können: Stieglitz war selten weiter entfernt davon gewesen, sich zu sicher zu fühlen.

Die nächsten Ratschläge hatten das schnelle Erfassen von Gefahrensituationen und das Vermeiden von Risikosituationen zum Thema. Lippert hatte ihm Bilder, Schemazeichnungen und immer wieder auch einmal Schockfotos von Mordopfern gezeigt, um seine Aufmerksamkeit wach zu halten, und ihm die Verhaltensregeln einzuprägen. Nie in das einzige Taxi steigen, das "zufällig" in der Nähe parkt, nie zu Fuß in kaum frequentierte Nebenstraßen flüchten, nie auf dem gleichen Weg zurückkehren, auf dem man gekommen ist, und überhaupt nie zwei Mal den gleichen Weg benutzen: Stieglitz fragte sich, wie er solche Ratschläge umsetzen und gleichzeitig seine Arbeit - die ja im wesentlichen daraus bestand, Zielpersonen hinterher zu schleichen -  machen sollte.

Jetzt würde er sich erst einmal mit einem Teil der Ausrüstung vertraut machen: Er öffnete das Sicherungsfach seines alten Opel Astra, und drückte ein kleines Gerät, auf dessen Rückseite sich einige LEDs befanden, in die dort untergebrachte Diagnosebuchse. Eine rote LED begann, hektisch zu blinken. Stieglitz drückte die Kalibriertaste für sieben Sekunden: Die LED verlosch. Jetzt kannte das Gerät den aktuellen Zustand von Motor und Fahrzeug-Elektronik und würde jede Manipulation zuverlässig anzeigen. Stieglitz musste nur daran denken, vor dem Starten einen kurzen Blick in das Sicherungsfach zu werfen. "Alles merkt das Ding aber auch nicht", hatte Lippert ihn gewarnt, "also geh vor dem Einsteigen besser einmal um das Fahrzeug, und sieh es dir auch einmal kurz von unten an."

Stieglitz entschloss sich, gleich damit anzufangen, und sah sich, bewaffnet mit einer Taschenlampe, auch den Unterboden an.

"Verdammte Scheiße!"

Am hinteren Querträger, unweit der Abschleppöse, haftete eine kleine schwarze Box, aus der ein kurzer Metallstummel ragte, nicht unähnlich denen, die er selbst gelegentlich benutzte, um über den Aufenthaltsort seiner Observationsziele auf dem laufenden zu bleiben - jemand legte offenbar Wert darauf, stets über den Standort von Stieglitz' altem Opel informiert zu sein. Stieglitz nahm sich vor, in Zukunft mehr zu Fuß zu gehen - und seine Schuhe nicht aus den Augen zu lassen.

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