Sonntag, 24. April 2011

Wie ich Thomas ruinierte

Vor ungefähr zwei Jahren habe ich begonnen, Thomas zu verändern.

Thomas ist aus dem Büro unseres Geschäftsführers gekommen. "Ich bin jetzt dein Boss!", hat er mir zugerufen, und dann erklärt: "Der Alte hat mich zum Abteilungsleiter befördert."

Ich habe gelächelt, bin aufgestanden, auf ihn zu gegangen, habe ihn in die Arme geschlossen und gesagt: "Thomas, ich freue mich sehr für dich. Du hast dir diese Beförderung verdient. Ich bin so froh, dass du jetzt unser Abteilungsleiter bist. Ich frage mich nur, warum nicht Hauptabteilungsleiter?" Thomas hat mich irritiert angesehen, "Danke" gesagt und seine Sachen zusammengeräumt, um sie in sein neues Büro zu tragen.

Vier Wochen später ist Thomas kurz vor Feierabend zu mir an den Schreibtisch gekommen. "Ich bekomme jetzt zweieinhalbtausend Euro mehr als du", hat er mir zugeraunt. "Das ist großartig, Thomas", habe ich ihm geantwortet, "es ist schön, dass du für deine harte Arbeit Anerkennung bekommst. Ich glaube aber, du hättest mehr verdient. Müller aus der Finanzbuchhaltung kriegt auch mehr." Thomas hat die Stirn gerunzelt, aber nichts gesagt.

Ein paar Monate später habe ich ihn auf dem Firmenparkplatz getroffen. Er ist aus einem ganz neuen BMW 5er Gran Tourismo ausgestiegen. "Netter Firmenwagen, was?", hat er gesagt. Ich habe erwidert: "Gutes Auto. Ein Mann mit deinen Aufgaben braucht auch ein angemessenes Fahrzeug. Müller meint allerdings, in einem Fahrzeug, das kleiner sei als sein 7er BMW, könne er überhaupt nicht vernünftig arbeiten. Dabei ist der sowieso immer bis acht im Büro. Aber ich freu mich für dich."

Wenn ich in den Wochen danach abends am Firmengebäude vorbei spaziert bin, hat auch um halb neun immer noch das Licht in Thomas Büro gebrannt.

Im letzten Sommer hat Thomas die anderen und mich aus der Abteilung zu einer Gartenparty in sein neues Haus eingeladen. Er hat uns die Marmortäfelungen und die Designermöbel gezeigt, und uns in seinem Pool schwimmen lassen. "Du hast ein fantastisches Haus", habe ich ihm gesagt, "und niemand hat härter dafür gearbeitet als du. Ach ja, warst du schon mal bei Müller zu Besuch? Der hat viel weniger Marmor. Von der Anhöhe, auf der sein Haus steht, hat man aber einen tollen Blick auf die ganze Stadt."

Von da an habe ich nichts mehr getan. Im Herbst hat Müller sich zu einer Fortbildung angemeldet. Zwei Wochen später hat Thomas ein Abendstudium begonnen. Als ich Thomas letzten Monat gesehen habe, hat er blass ausgesehen, nur die Ränder unter seinen Augen waren dunkel.

Letzte Woche ist es dann passiert: Der Geschäftsführer hat Müller zum Prokuristen gemacht. Thomas hat Müller auf dem Gang getroffen und zusammengeschlagen. Müller liegt noch im Krankenhaus, Thomas sitzt in Untersuchungshaft. Thomas ist nicht zu beneiden. Dabei hätte er sich so gefreut über ein wenig Neid.

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