Montag, 11. April 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 3

Jeder andere hätte das leise Zischen überhört, das sich unauffällig unter das Dröhnen des Motors gemischt hatte. Jürgen Dempf nicht: Der vierundfünfzigjährige Pilot hatte tausende von Flugstunden in seiner Beechcraft Bonanza zugebracht und pflegte mit einer an Paranoia grenzenden Aufmerksamkeit während des Flugs auch die kleinste Unregelmäßigkeit zu bemerken. Fand er dann nicht innerhalb weniger Minuten deren Ursache, steuerte er unweigerlich den nächsten Flugplatz an, um dem, was er wahrgenommen hatte, am Boden auf den Grund zu gehen. Erst vor zwei Wochen hatte er einen Dienstflug wegen ungewöhnlicher Geräusche unterbrochen, die, wie sich dann gezeigt hatte, von einem Popcornbecher stammten, der im Fußraum des Passagierbereichs herum gerollt war.


Heute war es kein Popcornbecher, der seine Aufmerksamkeit erregte. Er war - ohne Passagiere - auf dem Weg von Frankfurt nach Mailand, wo er drei Geschäftsleute aufnehmen und nach Berlin bringen würde. Die Cabagnellis waren seine ersten Kunden gewesen, damals, als er sich mit dem kleinen Lufttransportunternehmen selbständig gemacht hatte, und sie waren ihm über all die Jahre treu geblieben. Damals hatte Dempf seltener Passagiere, dafür häufiger eilige Fracht für die Cabagnellis transportiert. Er hätte preislich nie mit den großen Kurierdiensten mithalten können, aber Geld schien für die Cabagnellis keine all zu große Rolle gespielt zu haben. Als Sergio Cabagnelli, der große alte Mann der Unternehmerfamilie, ihn gestern angerufen hatte, war Dempf gerade im Begriff gewesen, sich mit seiner Lebesgefährtin in ein langes Wochenende abzusetzen, und hätte gern einen seiner Mitarbeiter mit dem Flug betraut, aber Sergio Cabagnelli hatte davon nichts wissen wollen. "Jürgen, du bist mir wie Sohn. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, he? Nix Mitarbeiter, flieg du uns."

Jürgen Dempf konnte diese Art von Zischen beim besten Willen nicht zuordnen. Aus dem Motor konnte es nicht kommen, Kabine und Treibstofftanks waren dicht, keines der Instrumente zeigte auch nur die kleinste Unregelmäßigkeit an. Eine Verwirbelung an den Tragflächen? Die Beechcraft Bonanza ist ein Tiefdecker, von seinem Cockpit aus konnte Dempf deshalb die Oberseiten der Tragflächen genau in Augenschein nehmen, ohne etwas zu entdecken, das eine solche Verwirbelung hätte erklären können. Eine Windbö rüttelte an der Maschine. Dempf hielt das Flugzeug in einer Höhe von 3000 Fuß über Grund, wo in dieser Gegend und um diese Tageszeit - es war kurz vor eins am Mittag - gewöhnlich nicht mit Turbulenzen zu rechnen war. Er leitete eine Linkskurve ein und zog dabei den Knüppel etwas zu sich hin, um keine Höhe zu verlieren, da hörte das Zischen abrupt auf. Und auch der Motor schwieg plötzlich, nur noch den Wind, der über die Tragflächen rauschte, hörte Dempf, während der Rotor flatternd an Geschwindigkeit verlor und die Bonanza sich nach vorn neigte.

"Scheiße, was ist das denn?!" Dempf kämpfte die aufkommende Panik nieder und versuchte, das Flugzeug geradeaus gleiten zu lassen, doch der Steuerknüppel rührte sich keinen Millimeter und auch die Pedale für die Querruder schienen wie festgeschweißt. Dass die Instrumententafel keinerlei verwertbare Information mehr zeigte, war da schon fast nebensächlich. Nebensächlicher jedenfalls als die Tatsache, dass auch das Funkgerät keinen Mucks mehr zu machen schien. Dempf konnte nicht mit letzter Sicherheit wissen, ob sein Funkspruch nicht doch irgendwo empfangen würde, und setzte einen letzten Notruf ab, während das Flugzeug sich in einer langgezogenen Spirale dem Boden näherte. Wenn sich an der Fluglage nicht schnell etwas änderte, würde die Maschine mit der Spitze in den Boden rammen, und dann wohl auseinander brechen und in Flammen aufgehen, analysierte Dempf die Situation mit einer Klarheit, die ihn selbst überraschte. Es gab hier viele Äcker und Wiesen, auf denen er eine solche Bruchlandung mit viel Glück überleben könnte, und ein paar Gewässer. Dempf schlug ein Kreuz, und tatsächlich schien das jemanden milde zu stimmen: Die Bonanza flog, immer noch im Bogen und in unveränderter Fluglage, einen See von ein paar hundert Quadratmetern an. Dann prallte sie, wie Dempf es erwartet hatte, auf die Wasseroberfläche auf, und er wurde mit ungeheurer Wucht in den Gurt gepresst. Die linke Tragfläche riss durch die Wucht des Aufpralls ab, und gleichzeitig brachen Dempf zwei Rippen. "Jetzt nur noch raus" - ein gewaltiger Adrenalinstoß ermöglichte es Dempf, den Schmerz der Rippenbrüche zu ignorieren. "Nur nicht ertrinken..." - In diesem Augenblick explodierte das Cockpit und ein Feuerball schien das schon halb versunkene Flugzeug von innen zu zerreißen. Das Ertrinken blieb Jürgen Dempf erspart.

In seiner Villa in Mailand sah Sergio Cabagnelli gerade auf seine Armbanduhr. Dann bekreuzigte er sich und sagte leise "Ciao, Jürgen".

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