Sonntag, 10. April 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 2

"Hunderttausend Euro für ein halbes Jahr meines Lebens", dachte Stieglitz beim Frühstück. "Ein Hurenlohn, aber nicht für eine Hure von Klasse." Die Demütigung hatte Stieglitz nicht vergessen, und ein ums andere Mal hatte er sich am vergangenen Abend gefragt, warum er Cabagnelli nicht einfach gesagt hatte, er möge doch bitte sein schmutziges Geld einpacken und sich zum Teufel scheren. Hatte er, indem er das unterlassen hatte, Cabagnellis Urteil nicht sogar noch bestätigt?

Für Stieglitz waren hunderttausend Euro mehr Geld, als seine Detektei in den letzten beiden Jahren zusammengenommen abgeworfen hatte. Cabagnelli hatte außerdem "Anzahlung" gesagt und würde wohl auch Nachforderungen begleichen, ohne mit der Wimper zu zucken. So lange er davon überzeugt war, Stieglitz erledige seine Arbeit gewissenhaft.


 "Das Geld kannst du verdammt gebrauchen", sagte er sich, "und sei nicht so empfindlich, du hast die Antwort ja praktisch herausgefordert."

Aber die Einschätzung, er sei kein Mann von Klasse, nagte an seinem Selbstbewusstsein. Er hatte sich trotz seiner eher unspektakulären Fälle immer als ein moderner Philip Marlowe gesehen, ein Einzelgängertyp, zäh, intelligent, der seinen Sinn für Gerechtigkeit auch schon mal über das Gesetz stellt, und tut, was er tun muss, auch wenn er dabei nicht immer auf ein Honorar hoffen kann. Ganz sicher konnte man Stieglitz als Einzelgänger und Individualisten bezeichnen, doch von außen betrachtet gab es nur zwei echte Parallelen zu Philip Marlowe: Seinen Beruf und seine Vorliebe für Bourbon. Auch äußerlich hatte Stieglitz keine große Ähnlichkeit mit Humphrey Bogart oder James Garner, den beiden bekanntesten Marlowe-Darstellern. Er hatte gut zehn Kilogramm zu viel, die sich vor allem auf Bauch und Hüften verteilten, ein eher breites Gesicht, und durch sein mit hohen Geheimratsecken konturiertes dunkelbraunes Haar zogen sich bereits deutlich wahrnehmbar graue Strähnen, obwohl er gerade erst die Vierzig erreicht hatte. In seinem Kleiderschrank hingen zwar ein paar billige Einreiher, und drei oder vier Krawatten, gewöhnlich sah man ihn aber mit offenen Hemden, die er zu bequem geschnittenen Jeanshosen trug.

Auch wenn er im Gespräch mit Klienten gern "wir" sagte, arbeitete Stieglitz überwiegend allein. Eine sechsmonatige Rund-um-die-Uhr-Observation ganz allein durchziehen, das war eine Herausforderung, die er bis jetzt noch nicht zu meistern gehabt hatte, und er war sich noch immer unschlüssig, ob er dieses Mal nicht besser mit einem kleinen Team arbeiten sollte. Geteiltes Geld ist halbes Geld, war sonst sein Motto, auf der anderen Seite wollte er es sich auch nicht erlauben, Cabagnelli durch Überwachungslücken gegen sich aufzubringen - das würde ihn vielleicht mehr kosten als nur sein Honorar. "Okay", dachte er bei sich, "ich werde Nils und Lea fragen. Wenn keiner von den beiden mitmacht, ziehe ich den Job alleine durch." Im stillen, wohl auch wegen der erlittenen Demütigung, hoffte er zudem, Maria Cabagnelli habe tatsächlich eine Affäre, deren schmutzige Details er innerhalb weniger Tage zusammentragen könne. Schon die Vorstellung, Enrico Cabagnelli die Fotos und Videos zu präsentieren, verschaffte ihm eine Ahnung des Triumphs, den er dann empfände. Ein süffisantes Lächeln war noch nicht von seinem Gesicht verschwunden, als er zu seinem Handy griff, und begann, in seiner Kontaktliste zu blättern.

In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür. Stieglitz legte das Mobiltelefon auf den Küchentisch, und ging zur Tür, um zu öffnen. Ohne erst die Sprechanlage zu bemühen, betätigte er den Türdrücker und öffnete die Wohnungstür. Er wohnte im obersten von drei Stockwerken, die Staubsauger- und Versicherungsvertreter ließen ihn deshalb meist in Ruhe, und von ein paar Freunden, Kollegen und wechselnden, aber stets einzeln auftretenden, Freundinnen abgesehen, waren es meist Paketboten, die sich und ihre jeweilige Fracht die Treppen hinauf schleppten. Doch die Frau, die heute lächelnd und scheinbar mühelos die Treppe hinauf kam, war ganz sicher keine Paketbotin.

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