Donnerstag, 14. April 2011

Hieb- und stichfest - Kapitel 6

"Das Ellenbogengelenk ist durchgedrückt, die Schießhand umfasst den Griff der Waffe so, dass die Laufachse ungefähr die Verlängerung des Unterarmes darstellt... Ach verdammt!" Norbert Stieglitz warf das Buch in die Ecke. Dann hob er es auf und stellte es zurück ins Regal rechts neben dem großen gläsernen Schreibtisch in seiner Detektei. Schießen lernt man nicht beim Lesen, sondern beim Schießen. Seitdem Stieglitz vor mehr als zwanzig Jahren seinen Wehrdienst absolviert hatte, hatte er keine Pistole mehr angerührt. Er hatte eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, Schießtraining zu absolvieren, als er sich mit seiner Detektei selbständig gemacht hatte, aber mangels Notwendigkeit den Gedanken bald wieder aufgegeben.

Doch dieser Auftrag änderte alles: Im Laufe des Gesprächs mit Gianna Modugno war ihm klar geworden, dass er ganz unerwartet auf lebensgefährliches Terrain geraten war.

Dass es sich bei der vermuteten Untreue der Zielperson nicht einfach um eine weitere von zahllosen Affären handelte, für die er den betrogenen Partnern im Laufe der Jahre Nachweise geliefert hatte. Dass Menschen in Enrico Cabagnellis Umfeld getötet worden waren, und dass vielleicht noch weitere Menschen sterben würden. Und dass es viel zu spät war, den Auftrag abzulehnen, denn eigentlich schon mit dem Besuch Cabagnellis in seiner Detektei, spätestens aber nach dem morgendlichen Besuch seiner Anwältin bei ihm zu Hause gehörte auch Stieglitz zu Cabagnellis Umfeld.

Richtmikrofone, Abhör- und Peilsender, Knopfkameras und die zugehörigen Aufnahmegeräte, das waren seine Werkzeuge. Mit Gewalt war er, von einem vergleichsweise unbedeutenden Schlag in die Magengrube vor acht Jahren abgesehen, praktisch nie konfrontiert worden. Der Gedanke, sich nun plötzlich buchstäblich seiner Haut erwehren zu müssen, bereitete ihm feuchte Hände und einen stechenden Druck in der Magengegend. Das schlimmste war, er wusste weder, ob er bereits in das Visier der Mörder geraten war, noch gingen die - wenn es sie überhaupt gab - mit einer absehbaren Methodik vor. Auf der anderen Seite war die Häufung von Todesfällen im Umfeld des italienischen Geschäftsmannes nicht mit bloßem Zufall zu erklären:  

Marco Tozzi, ein Laufbursche Cabagnellis, war beim Überqueren einer selten genutzten Seitenstraße von einem Auto erfasst und überrollt worden, der Fahrer hatte Unfallflucht begangen. Es gab zwar Zeugen, aber die konnten sich nicht einmal auf die Farbe des Unfallfahrzeugs festlegen.

Julius Bramstätter, Cabagnellis Steuerberater, war vier Tage später tot in seiner Steuerkanzlei gefunden worden. Nachdem sein Hausarzt die Aussage von Bramstätters Frau bestätigt hatte, ihr Mann sei schwer herzkrank gewesen, und alle Indizien auf ein Herzversagen hindeuteten, hatte man auf eine Obduktion verzichtet.

Georg Fauster, der für Cabagnelli das Bordell "Al Ghadaffi" am Stadtrand geleitet hatte, war letzte Woche rücklings durch ein geschlossenes Fenster im dritten Stock seines Etablissements gestürzt und hatte sich beim Aufprall das Genick gebrochen. Die Ermittlungen standen kurz davor, eingestellt zu werden.

Carlo Niccolini, der eine freie Autowerkstatt betrieb, aber gut die Hälfte seiner Einnahmen mit der Pflege und Instandsetzung der Autos von Cabagnelli und dessen Mitarbeitern erzielte, war in der Wohnung über seiner Werkstatt verbrannt, nachdem unter ihm aus bislang ungeklärten Gründen ein Feuer ausgebrochen war.

Das waren vier Todesfälle, von denen Stieglitz zu diesem Zeitpunkt wusste, und die der eigentliche Grund waren, weshalb Cabagnelli ihn aufgesucht hatte. Deshalb, und weil er um die käufliche Loyalität seiner eigenen Mitarbeiter wusste, hatte er jemanden von außerhalb beauftragt, die aus seiner Sicht Hauptverdächtige zu überwachen. Er hatte Stieglitz ursprünglich in dem Glauben lassen wollen, es ginge ihm bloß darum, ihr Ehebruch nachzuweisen. Er selbst hätte dann die Fotos, Videos und Tonaufnahmen genutzt - deren Bedeutung Stieglitz ohnehin nicht begriffen hätte - um alle zu entlarven, die sich mit ihr gegen ihn verschworen hatten, und gründlich aufzuräumen. Aber er hatte mit jemandem darüber sprechen müssen - mit seiner Nichte Gianna, der Tochter seiner in Mailand lebenden Schwester, der einzigen, der er im Augenblick vertraute. Gianna Modugno hatte vor zwei Jahren ihr Jurastudium mit dem Staatsexamen abgeschlossen, und seitdem ihren Onkel juristisch beraten. Sie hatte schnell gelernt, wovon ihr Onkel sprach, wenn vom "Aufräumen" die Rede war und den kleinen moralischen Schwachpunkt seines Vorhabens entdeckt: Hätte er erst einmal mit dem Aufräumen begonnen, würde es sich Cabagnelli nicht leisten können, Stieglitz am Leben zu lassen, der sich sonst früher oder später auf alles einen Reim machen würde. "Und dann", hatte sie ihrem Onkel gesagt, "können wir ihm auch gleich alles sagen. Jeder arbeitet besser, wenn er weiß, dass es um sein Leben geht."

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