Als Sven Klöckner an diesem Morgen die Tür zu seiner Bankfiliale aufschloss, wusste er, der Tag wird gut. Er hatte sich in den letzten Stunden gezwungen, keine Wirtschaftsnachrichten zu lesen, hatte im Auto statt des Radioprogramms eine CD gehört, hatte nicht einmal die Schlagzeilen der BILD eines Blickes gewürdigt, die an dem Kiosk auslag, den er auf dem kurzen Fußweg vom Parkplatz bis zur Bank passieren musste. Er wollte den Triumph nicht häppchenweise, sondern in einer einzigen großen emotionalen Welle auskosten.
Eine Schlagzeile in der BILD, das wäre die Meldung ohnehin nicht wert gewesen, die Klöckner an diesem Tag erwartete, und selbst die Wirtschaftsseiten der Publikumszeitungen würden kaum Kenntnis davon nehmen. Fiat würde einen kleinen, aber börsennotierten Zulieferer schlucken wollen, und den Aktionären deshalb ein Übernahmeangebot für dessen Aktien unterbreiten, das zwei Euro, also mithin zwanzig Prozent, über dem letzten Tageskurs lag. Und damit würde der Kurs um - mindestens - zwanzig Prozent steigen.
Klöckner hatte in den letzten Jahren nicht schlecht verdient und war klug mit seinem Geld umgegangen. Deshalb konnte er, als er diese Information erhielt, spontan 120.000 Euro investieren. Klöckner hatte gestern Abend, kurz vor Börsenschluss, das ganze Geld in Optionsscheine gesteckt, deren Wert heute von 20 Cent auf zwei Euro pro Stück steigen würden. Seine 120.000 Euro würden also nicht, wie die Aktie, um 20 Prozent steigen, sondern sich verzehnfachen: Seine erste Million war zum Greifen nah, was entgegen dem Volksglauben für den Leiter einer Drei-Mann-Filiale einer kleinen Genossenschaftsbank Anfang Dreißig keine Selbstverständlichkeit war. Und die Information war absolut verlässlich, stammte sie doch von Sergio Cabagnelli, dem Gründer und Mehrheitsaktionär der kleinen Zulieferfirma, persönlich. Dem hatte Klöckner in den letzten paar Jahren hin und wieder ein paar Gefallen getan, zum Beispiel Informationen über die finanzielle Situation von Mitbewerbern besorgt, Meldungen nach dem Geldwäschegesetz unter den Tisch fallen lassen, nichts großes also. Cabagnelli hatte sich stets erkenntlich gezeigt, und bei seinem Anruf gestern hatte er von einem "kleinen Bonus" gesprochen, der nun fällig sei.
Um 9:10 Uhr ging Fiat mit dem Übernahmeangebot an die Öffentlichkeit.
Um 9:12 Uhr hatte Sven Klöckner seine Optionsscheine verkauft und der Erlös von 1,2 Millionen Euro wurde seinem Verrechnungskonto gutgeschrieben.
Um 9:16 Uhr rief Klöckner seine Frau an.
Um 9:21Uhr hielt ein dunkler Van vor der Bankfiliale, und drei mit Uzis bewaffnete Maskierte stürmten daraus in den Schalterraum der Filiale.
Um 9:24 Uhr kehrten die Maskierten zu ihrem Fahrzeug zurück, das mit quietschenden Reifen anfuhr und verschwand.
Um 10:12 Uhr betraten zwei Kunden den Schalterraum und entdeckten dort die Leichen. Sven Klöckner, sein Kassierer und seine Kundenberaterin waren mit je einem Schuss in die Stirn getötet worden.
Sergio Cabagnelli zeigte keine Regung, als er den Anruf erhielt. Der Herr gibt, der Herr nimmt. Gelobt sei der Herr. Klöckners kleiner Familie würde es an nichts fehlen, dafür jedenfalls war gesorgt.
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